2023

Bericht 17. Mannheimer Arbeitsrechtstag, 8. März 2023: »Arbeitsrecht vor neuen Herausforderungen«

Nach der Krise ist vor der Krise: Mit dem Ende der Corona-Pandemie haben sich neue Abgründe aufgetan, die auch die Arbeitswelt massiv beeinträchtigen. So stellen der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, die dauerhaft hohe Inflation sowie die Rezession Unternehmen und Beschäftigte hier zu Lande vor neue Herausforderungen. Darüber hinaus tragen der Gesetzgeber und die höchstrichterliche Rechtsprechung dazu bei, dass im Arbeitsrecht keine Ruhe einkehrt. Vor diesem Hintergrund wurden die aktuellen Rechtsfragen im Arbeitsrecht am 8. März 2023 unter der Leitung von Professor Dr. Frank Maschmann (Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität Regensburg) mit Experten aus Theorie und Praxis diskutiert.
Gleich zu Beginn präsentierte Waldemar Reinfelder, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht, den neuen „Königsweg“ der flexiblen Entgeltgestaltung: die einseitige Leistungsbestimmung nach § 315 BGB. Das Bedürfnis nach einem „neuen“ Flexibilisierungsinstrument entspringe den hohen Anforderungen, welche die Rechtsprechung mittlerweile an Freiwilligkeits- und Änderungsvorbehalte stelle. Im Rahmen des Änderungsvorbehalts stelle sich bei fehlender vertraglicher Regelung zudem die Frage nach der Anrechnung von Tariflohnerhöhungen. Nach aktueller Rechtsprechung seien diese auf übertarifliche Zulagen ohne besonderen Zweck anrechenbar. Dies könne sich aufgrund des Konflikts mit dem Transparenzgebot aber alsbald ändern. Zur flexiblen Gewährung von Boni sei der Änderungsvorbehalt dennoch nicht zu empfehlen. Es sei vielmehr zielführender, wenn sich der Arbeitgeber ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht einräumen lasse. Dann habe der Arbeitnehmer lediglich einen Anspruch auf Entscheidung über die Höhe der Leistungsgewährung. Ob diese billigem Ermessen entspreche, unterliege allerdings der vollen gerichtlichen Kontrolle. Um seiner Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Billigkeit genügen zu können, müsse der Arbeitgeber der (Gerichts)-Öffentlichkeit aber unter Umständen sensible Unternehmensdaten preisgeben. at23_reinfelder
at23_rupp Anschließend gab Dr. Hans-Jürgen Rupp, Richter am Arbeitsgericht Würzburg, einen Überblick über aktuelle Probleme des betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) und nahm zu bereits existierenden Reformvorschlägen Stellung. Unsicherheit schaffe zunächst die (neue) Regelung des § 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX, welche die Hinzuziehung einer Vertrauensperson im bEM ermögliche. Es sei unklar, ob und wenn ja, auf welche Art und Weise der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auf diese Möglichkeit hinweisen müsse. Darüber hinaus sei auch die Kostenfrage nicht geklärt. Erste Reformüberlegungen des BMAS sehen u.a. die Einführung eines echten Rechtsanspruchs auf Durchführung des bEM sowie verbindlicher Qualitätsstandards vor. Dies sei zumindest insoweit fragwürdig, als der Rechtsanspruch auch Kleinbetriebe erfassen soll. Die Berücksichtigung des bEM bei der Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitserfordernisses der Kündigung in Kleinbetrieben würde ins Leere laufen.
Im Anschluss stellte Rechtsanwalt Dr. Daniel Holler (Sonntag & Partner Nürnberg) offene Rechtsfragen des neuen Nachweisrechts vor. Handlungsmaxime sei hier im Zweifel lieber „zu viel“ als „zu wenig“ nachzuweisen. Durch den Verweis auf bzw. die Wiedergabe von gesetzlichen Regelungen könne der Arbeitgeber einige offene Rechtsfragen „umschiffen“. In der Praxis bereite die Nachweispflicht gerade beim Betriebsübergang Probleme: Zum einen sei bei mehreren Betriebsübergängen und mangelhafter Dokumentation unklar, welche Arbeitsbedingungen überhaupt gelten würden. Zum anderen stelle sich bei der Unternehmensübertragung mittels asset deal häufig die Frage, ob überhaupt ein Betriebsübergang i.S.v. § 613a BGB vorliege. Die falsche Einschätzung habe häufig auch Auswirkungen auf die Erfüllung der Nachweispflichten. Zumindest in Bayern und Baden-Württemberg sei eine bußgeldbewährte Ahndung von Verstößen jedoch unwahrscheinlich, da die zuständigen Gemeinden und Landratsämter regelmäßig überlastet seien. at23_holler
at23_fritz Über die Umsetzung der Hinweisgeberschutzrichtlinie referierte nach dem Mittagessen Rechtsanwalt Dr. Hans-Joachim Fritz (BÜSING MÜFFELMANN & THEYE Frankfurt). Obwohl das HinSchG im Bundesrat gescheitert sei, lohne sich die Lektüre des Gesetzesentwurfs, dürften künftige Umsetzungsbestrebungen doch nicht allzu weit von diesem abweichen. Demnach sei der Arbeitgeber zur Errichtung einer internen sowie externen Meldestelle verpflichtet, die zum einen über die notwendige Sachkenntnis zur Beurteilung des Anwendungsbereichs des HinSchG verfügen müsse. Zum anderen müsse sie in der Lage sein, anonyme Meldungen bearbeiten zu können. Der aktuellen Rechtslage entsprechend lege auch das HinSchG dem Arbeitnehmer eine Loyalitätspflicht auf, welche ihn grundsätzlich zur innerbetrieblichen Abhilfe verpflichte. Im Gegenzug werde der Hinweisgeber vor Repressalien des Arbeitgebers geschützt.
Über die aktuellen Tendenzen des Beschäftigtendatenschutzes berichtete Professor Dr. Frank Maschmann (Universität Regensburg). Hoch umstritten sei, welche datenschutzrechtlichen Regelungen in Kollektivvereinbarungen getroffen werden können. Dies betreffe sowohl die heimliche Videoüberwachung, als auch die Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot für mitbestimmungs- oder datenschutzwidrig erlangte Daten vereinbart werden könne. Des Weiteren hält Maschmann die datenschutzrechtliche Einordnung des Betriebsrats in § 79a BetrVG nicht nur für missglückt, sondern sogar unionsrechtswidrig. Darüber hinaus gefährde sowohl der Auskunftsanspruch des Arbeitgebers als auch die Zuständigkeit dessen Datenschutzbeauftragten die Unabhängigkeit des Betriebsrats. Für alle datenverarbeitenden Stellen gleichwohl von Bedeutung sei es, eine taugliche Grundlage für die Datenverarbeitung zu finden und einen möglicherweise weitreichenden Auskunftsanspruch zu beschränken. Für ersteres sei von der Einwilligung weiterhin abzuraten. Diese könne jederzeit widerrufen werden und die Freiwilligkeit sei z.B. im Kontext von Bewerbungsverfahren häufig fraglich. Für letzteres sei die Implementation eines Löschkonzepts zu empfehlen, da sich datenverarbeitende Stellen dann auf die Unmöglichkeit des Auskunftsanspruchs berufen könnten. at23_maschmann
at23_grosse_vorholt Zum Schluss klärte Rechtsanwalt Dr. André Große Vorholt (Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH München) über strafrechtliche Risiken durch das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz (LkSG) auf. Im Fokus dabei stünde der Straftatbestand der Geldwäsche (§ 261 StGB). Nach dem „all crime“-Ansatz genüge zur Tatbestandsverwirklichung die Herkunft eines verwahrten Gegenstandes aus irgendeiner rechtswidrigen Tat. Zu beachten sei dabei die weitreichende Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts, mitunter sogar auf Auslandstaten. „Leichtes Spiel“ habe die Staatsanwaltschaft beim Beweis des vom subjektiven Tatbestand vorausgesetzten leichtfertigen Handelns durch die dem Unternehmen auferlegte Anforderung zur Aufstellung einer Risikoanalyse nach dem LkSG. Diese verlange die Aufstellung detaillierter Sorgfaltspflichten und begründe durch die Benennung von verantwortlichen Personen Garantenstellungen. Widersprüchlich erscheine insoweit, dass eine möglichst präzise Risikoanalyse der Staatsanwaltschaft den Beweis des leichtfertigen Handelns zu Lasten des Arbeitgebers erleichtere. Das Unternehmen dürfte demnach regelmäßig kein Interesse daran haben, die Analyse mit der gebotenen Präzession durchzuführen.
Fazit:Das Arbeitsrecht bleibt am „Puls der Zeit“. Gesellschaftliche bzw. politische Entwicklungen schlagen regelmäßig auf das Arbeitsrecht durch. Arbeitsvertragsparteien, Betriebsräte, Gewerkschaften und sonstige im Arbeitsrecht relevante Stellen sind daher gut beraten, die aktuellen Entwicklungen zu beobachten, sich mit diesen auseinanderzusetzen und im Bedarfsfall zu reagieren. Gerade die Transparenzverpflichtungen des Arbeitgebers sind durch NachwG, HinSchG, DSGVO und LkSG deutlich erweitert worden, wobei ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen ist.
Jonas Bär, Mannheim
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Referenten (v.l.n.r.): Dr. Fritz, Dr. Holler, Maschmann, Dr. Große Vorholt, Dr. Rupp