2020

Bericht 15. Mannheimer Arbeitsrechtstag, 11. März 2020: »Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht im Dialog«

at20_maschmann Der Einfluss der Europäischen Union (EU) auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wird von Jahr zu Jahr größer. Kein Wunder, dass auch das Arbeitsrecht nicht mehr allein aus nationaler Perspektive betrachtet werden kann. Wie weit die Vorgaben der EU die tägliche Praxis des deutschen Arbeitsrechts schon heute beeinflussen und welche Vorschriften zu erwarten sind, wurde am 12. März 2020 unter der Leitung von Professor Dr. Frank Maschmann (Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Universität Regensburg) mit Experten aus Theorie und Praxis in Mannheim diskutiert. Trotz Brexit und anderer Herausforderungen könne nur eine starke EU im Wettbewerb mit neuen Konkurrenten – wie etwa China – bestehen, so Maschmann in seinem Eingangsreferat. Das erfordere nicht zuletzt unionsweit einheitlich geltende Regelungen.
Gleich zu Beginn konstatierte Professor Dr. Adam Sagan (Universität Bayreuth), dass der EuGH von seinem Auslegungsmonopol Gebrauch mache, um die Reichweite des europäischen Arbeitsrechts einheitlich zu bestimmen. So gilt im Sekundärrecht mittlerweile ein „autonomisierter“ Arbeitnehmerbegriff, wonach die Mitgliedstaaten trotz einer Verweisung auf das nationale Recht den Begriff des Arbeitnehmers nicht selbst bestimmen dürfen, wenn hierdurch entweder die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wird oder eine besonders wichtige Regel des Sozialrechts der Union in Rede steht. Daraus folge, dass der für das Primärrecht entwickelte autonome Arbeitnehmerbegriff auch in Vorschriften des deutschen Arbeitsrechts „hineinzulesen“ sei, wenn sie auf EU-Richtlinien beruhten. Maßgeblich sei dann nicht der Arbeitnehmerbegriff des § 611a BGB, sondern der der Arbeitnehmerfreizügigkeit i.S.d. Art. 45 AEUV. Deshalb könne sich z.B. der GmbH-Fremdgeschäftsführer uneingeschränkt auf das AGG berufen, da er unter Beachtung des Unionsrechts als Arbeitnehmer anzusehen sei. at20_sagan
at20_gallner Anschließend stellte Inken Gallner, Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht, anschaulich dar, dass die urlaubsrechtlichen Probleme zwischen Luxemburg und Erfurt noch immer nicht gelöst sind. Grund dafür sei ein jahrelanger „clash of cultures“: Urlaubsrecht sei auf europäischer Ebene in Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie verankert und unionsrechtlich betrachtet daher Arbeitszeitrecht im weiteren Sinne zum Zweck des Gesundheitsschutzes. Dieses öffentlich-rechtliche Verständnis des Urlaubsrechts sei der deutschen Kategorisierung als reines Privatrecht noch immer unvertraut. So werde das Urlaubsrecht im vielbemühten europäischen Mehrebenensystem zu einer sehr komplexen und mitunter wenig vorhersehbaren Materie. Der EuGH habe aber zu Recht festgestellt, dass die Arbeitszeitrichtlinie Art. 31 Abs. 2 GRC konkretisiere. Damit sei der von Art. 31 Abs. 2 GRC geschützte bezahlte Jahresurlaub nicht nur ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union, sondern ein vollwertiges soziales Grundrecht, das gegenüber privaten Arbeitgebern unmittelbar wirke. Lege man dieses unionsrechtliche Urlaubsverständnis zugrunde, könne man nachvollziehen, warum der EuGH angenommen habe, dass Urlaubs(-abgeltungs)ansprüche bei fehlendem Urlaubsantrag nur untergehen könnten, wenn der Arbeitnehmer als schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses vom Arbeitgeber tatsächlich in die Lage versetzt werde, die Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen.
Im Anschluss lieferte Professor Dr. Rüdiger Krause (Universität Göttingen) in seinem Vortrag „Zurück zur Stechuhr? – Arbeitszeitrecht vor europäischen Herausforderungen“ eigene Interpretationsansätze für das jüngst vom EuGH geforderte „objektive, verlässliche und zugängliche System“ zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit. Die nun notwendig gewordene nationale Neuregelung des ArbZG werde von den Unternehmen die Schaffung eines manipulationssicheren, individuell zugänglichen Systems verlangen, das einen objektiven Nachweis der erbrachten Arbeitszeit ermögliche. Da dem deutschen Gesetzgeber ein gewisser Gestaltungsspielraum hinsichtlich des „Wie“ der Umsetzung verbleibe, seien Differenzierungen nach konkreten Tätigkeitsbereichen und Unternehmensgrößen denkbar. at20_krause
at20_brink Über die aktuellen Entwicklungen im Beschäftigtendatenschutz berichtete Dr. Stefan Brink, Landesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg. Auch wenn die deutschen Aufsichtsbehörden bei der Sanktionierung von Datenverstößen im europäischen Vergleich noch immer relativ zahm vorgingen, nähere sich die Schonfrist ihrem Ende. Die Unternehmen seien aufgrund der konstant hohen Zahl der Beschwerden gut beraten, sich der neuen Rechtslage anzunehmen, anstatt diese weiter zu hinterfragen. So seien z.B. die Betroffenenrechte aus § 15 DS-GVO weder beschränkt noch beschränkbar. Gleichwohl könnten sich die Arbeitgeber z.B. durch die Implementierung eines Löschkonzepts vor unverhältnismäßig hohem Aufwand schützen. Brink wies darauf hin, dass die Einwilligung des Mitarbeiters keine verlässliche Grundlage für die Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten schaffe, da sie wegen der sozialen Abhängigkeit im Arbeitsverhältnis nur selten freiwillig erfolge und zudem jederzeit widerrufen werden könne. Die aktuell sehr kontrovers diskutierte Frage, ob auch der der Betriebsrat Verantwortlicher für die Datenverarbeitung sei, bejahte Brink. Er machte klar, dass den Betriebsrat damit der gesamte Pflichtenkatalog der DS-GVO träfe, wofür er auch persönlich hafte und mit ihm der Arbeitgeber. Zuletzt kritisierte Brink Gerichte, die datenschutzwidrig erhobene Beweise verwerten: „Die richterliche Freiheit endet bekanntlich dort, wo das Gesetz bindet“.
Anschließend nahm sich Professorin Dr. Monika Schlachter (Universität Trier) den Schranken der sachgrundlosen Befristung an. Neben der Höchstdauer und einer maximalen Verlängerungszahl begrenze vor allem das Vorbeschäftigungsverbot die sachgrundlose Befristung. „Einmal und nicht wieder“ laute der Grundsatz. Dieser könne nach Auffassung des BVerfG allerdings durchbrochen werden, wenn das Vorbeschäftigungsverbot zu unzumutbaren Ergebnissen führe. Dies könne beispielweise der Fall sein, wenn die Vorbeschäftigung beim selben Arbeitgeber sehr lange zurückliege, ganz anders geartet oder von sehr kurzer Dauer gewesen sei. Laut Schlachter zeige diese Aufzählung, dass das BVerfG ein spezielles Schutzkonzept für das Befristungsrecht verfolge, das unionsrechtlich geprägt sei: Nach EU-Recht sei die unbefristete Dauerbeschäftigung die Regel, die Befristung die Ausnahme. Außerdem gelte es, missbräuchliche Befristungsketten zu verhindern. Entscheidend für die Einschränkung des Vorbeschäftigungsverbots sei daher nicht – wie zuvor vom BAG vertreten – ein konkreter Zeitablauf seit der letzten Beschäftigung beim selben Arbeitgeber, sondern die Frage, ob eine Vorbeschäftigung das Schutzkonzept des Gesetzes beeinträchtige. Vor diesem Hintergrund warnte Schlachter, dass der EuGH den Wortlaut „derselbe Arbeitgeber“ im Vorbeschäftigungsverbot bald arbeitsplatzbezogen ausgelegen könne, um so Umgehungsstrategien zu bekämpfen, bei denen Arbeitnehmer auf demselben Arbeitsplatz von formal verschiedenen, aber vertraglich verbundenen Arbeitgebern nacheinander sachgrundlos befristet beschäftigt würden. at20_schlachter
at20_fritz Zum Schluss stellte Rechtsanwalt Dr. Hans-Joachim Fritz (Kanzlei Arnold Porter Frankfurt) die neue EU-Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, vor. Die Richtlinie enthalte ein modifiziertes dreistufiges Meldeverfahren, das eine Abkehr vom Vorrang der innerbetrieblichen Abhilfe darstelle. Künftig dürfe sich ein „Whistleblower“ nämlich unter erleichterten Voraussetzungen an eine externe Stelle oder sogar an die Öffentlichkeit wenden. Auch wenn die Umsetzungsfrist des nationalen Gesetzgebers erst am 17.12.2021 ablaufe, seien vorausschauende Unternehmen gut beraten, frühzeitig ein effektives Hinweisgebersystem zu implementieren.
Fazit:
Schon jetzt kann das deutsche Arbeitsrecht nicht mehr verstehen, wer die Einwirkung des Unionsrechts ausblendet. Dabei hat sich insbesondere der EuGH zu einem entscheidenden Integrationsmotor entwickelt. Wegen der weit gefassten Kompetenznorm in Art. 153 AEUV, dem nach wie vor hohen Integrationsbedarf und dem Integrationswille der Union steht zu erwarten, dass sich das deutsche Arbeitsrecht auch in Zukunft weiter europäisiert.

Silas Hengstberger, Mannheim


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